Der ehrbare Kaufmann – Ideal einer neuen, alten Arbeitsethik?

„… aber mache nur solche Geschäfte, dass wir bei Nacht ruhig schlafen können.“ (Thomas Mann, Die Buddenbrooks) – Auch 2018 ist der ehrbare Kaufmann noch ein verbreiteter Topos in der westlichen Geschäftswelt. Vor dem Hintergrund einer humanistisch und nicht zuletzt christlich geprägten Ethik in Europa haben sich Wirtschaftstreibende bereits seit Jahrhunderten scheinbar konsensual dazu verpflichtet, dass Werte wie Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Integrität die Basis für ihr wirtschaftliches Handeln darstellen sollen.

 

 

So greift die Commerzbank in ihren Unternehmenswerten auf den Kaufmann-Topos zurück:

„Die Commerzbank steht in einer langen Tradition, die bis in das Jahr 1870 zurückreicht. Gegründet von Hamburger Kaufleuten, fühlen wir uns auch heute noch den Werten des ehrbaren, hanseatischen Kaufmanns verpflichtet.“ (Commerzbank 2015)

Im Non-Profit-Bereich findet der ehrbare Kaufmann ebenfalls Verwendung: Das Leitbild der gemeinnützig arbeitenden Nachwuchsförderung Haniel-Stiftung orientiert sich beispielsweise daran:

„Für Haniel und die zum Familienunternehmen gehörende Stiftung stellt das Ideal des ehrbaren Kaufmanns den Wegweiser für erfolgreiches und langfristiges sowie nachhaltiges Wirtschaften gerade auch in einer zunehmend vernetzten Welt dar.“ (Haniel-Stiftung 2018).

Diese Ideale ziehen sich selbst 260 Jahre nach ihrer erstmaligen Einführung seitens Franz Haniels auch im 21. Jahrhundert noch mit erstaunlicher sprachlicher Präsenz durch die Grundsätze seiner Enkelkinder.

Aus einer sprachphilosophischen Perspektive sollen in diesem Beitrag folgende Fragen in den Vordergrund gerückt werden:

  • Was versteht die Sprachgemeinschaft unter ehrbarer Kaufmann? Wie hat sich die Bedeutung über die Jahrhunderte verändert?
  • In welchen Bedeutungszusammenhängen sprechen wir von ehrbarer Kaufmann, welche Eigenschaften werden diesem sprachlich zugeschrieben?
  • Wo wird der ehrbare Kaufmann heute sprachlich fixiert? Wie hat sich das Konzept sprachlich weiterentwickelt (z.B. zu Corporate Social Responsibility (CSR) und Good Corporate Citizen)?

 

Bedeutungsentwicklung: Der Schankwirt

Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (2017) liefert einen ausführlichen Überblick zur Entwicklung des Wortes Kaufmann: Vom lateinischen caupo (Schankwirt, Herbergsvater, Kleinhändler) abstammend, erlebt Kaufmann eine starke Verwendung im Mittelalter, synonym zum mittelhochdeutschen Wort burgære (Bürger, Stadtbewohner), da die Kaufleute den herausragenden Stand innerhalb des städtischen Bürgertums bildeten. Nachweislich seit dem 12. Jahrhundert wird in Europa das Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns in Kaufmannshandbüchern gelehrt. Im 17./18. Jahrhundert findet eine gemeinsame Verwendung im Kontext der deutschen Hanse mit Hamburger und Hansestadt statt, zwischen 1710 und 1750 zeigt das Wortauskunftssystem die höchsten Ausschläge (beispielhaft dafür ist die Versammlung eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg e.V.) (vgl. DWDS 2017).

Die Wortverbindung ehrbarer Kaufmann ist dabei das häufigste Verwendungsmuster, wenn Kaufmann gemeinsam mit einem Adjektiv vorkommt (noch vor hanseatischer / gelernter / sorgfältiger / tüchtiger / wohlhabender / verurteilter Kaufmann).

Die weibliche Form Kauffrau wird anfangs ebenso verwendet, ist ab 1750 jedoch kaum mehr auffindbar (zudem niemals gemeinsam mit ehrbar). Ab 1950 steigt sie allerdings wieder leicht in ihrer Verwendung an, was auf standardisierte Berufsbezeichnungen zurückzuführen ist (z.B. Kauffrau für Bürokommunikation).

 

Verwendung heute: der Industriekaufmann

Die Wortverbindungen für Berufsbezeichnungen bilden im Jahr 2018 die meisten Treffer für *Kaufmann, z.B. Kaufmann im Einzelhandel, Kaufmann für Büromanagement, Industriekaufmann, Kaufmann im Groß- und Außenhandel oder Bankkaufmann. Das Wort Kaufmann scheint im sonstigen Gebrauch eher veraltet zu sein, was die DWDS-Verlaufskurve der Wortverwendung bestätigt.

Geläufigere Wörter sind dagegen Verkäufer, Vertriebler, Ladenbesitzer, Geschäftsmann, Handelsunternehmer (Groß-/Einzelhändler) oder, mit wissenschaftlicher Perspektivierung, Betriebswirt. Dies erklärt auch die abnehmende Suchanfragenfrequenz für Kaufmann bei Google Trend (Abbildung 2). In der Schweiz und Liechtenstein sind dagegen wesentlich mehr Verwendungen ersichtlich.

 

Bedeutungserweiterung: CSR und Good Corporate Citizen

In der mittelalterlichen Gesellschaft war der Kaufmann bereits nicht nur Wirtschaftstreibender, sondern auch gebildeter Reisender, Entdecker, Schreibender (z.B. Marco Polo), der um das Gemeinwesen der (freien) Städte bemüht war. Unter den Bürgern genoss er daher großes Ansehen. Tugenden wie Fleiß, Disziplin, Bescheidenheit, Integrität, Ehrlichkeit, Anstand und Weitsicht wurden ihm seit damals zugeschrieben.

Heute werden diese Tugenden durch Ökonomisierungs-, Globalisierungs- und sprachliche Entgrenzungsbestrebungen auf gesamte Unternehmen übertragen und haben vor allem im CSR-Konzept ihren Fixpunkt gefunden. CSR steht für verantwortliches unternehmerisches Handeln in der eigentlichen Geschäftstätigkeit (Markt), über ökologisch relevante Aspekte (Umwelt) bis hin zu den Beziehungen mit Mitarbeitern (Arbeitsplatz) und dem Austausch mit den relevanten Anspruchs- bzw. Interessengruppen. Im deutschen Sprachgebrauch finden sich, teilweise synonym, die Ausdrücke (Unternehmens-)Ethik oder werteorientierte (Unternehmens)Führung. In begrifflicher Nachbarschaft weiden neben dem CSR-Konzept auch der (Good) Corporate Citizen und die Corporate Governance, die Grundsätze der Unternehmensführung für die Leitung und Überwachung von Unternehmen zum Wohlwollen aller relevanten Anspruchsgruppen formulieren.

 

Ehrbarer Kaufmann – immer noch Sittenhüter?

Man könnte meinen, Anglizismen wie CSR oder der Spätkapitalismus hätten die sprachlichen Rekurse mehr und mehr verdrängt, doch auch 2018 findet sich der ehrbare Kaufmann in offiziellen Dokumenten der Schriftsprache wieder.

Der ehrbare Kaufmann wurde u.a. als Leitbild für das optimal handelnde Wirtschaftssubjekt im aktuell gültigen §1 des IHK-Gesetz übernommen:

„Die Industrie- und Handelskammern haben (…) zu unterstützen und zu beraten sowie für Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken.“

Außerdem gilt der ehrbare Kaufmann nach einigen juristischen Auseinandersetzungen als Aushängeschild des „Deutschen Corporate Governance Kodex“ 2017.

In einer breit angelegten Untersuchung von 465 Unternehmensleitbildern, Strategien, Mission Statements und verwandten Textsorten der DAX-30-Unternehmen zwischen 2011 und 2013 zeigte sich zudem, dass 80% der Unternehmen einen entsprechenden Wertekanon, der klassische Tugenden des ehrbaren Kaufmanns enthält, für sich definiert haben. Pro Unternehmen wurden dabei mindestens vier Werte sprachlich angereichert (z.B. Integrität, Verantwortung, Leistung, Respekt) (vgl. Burel 2015).

 

Kauf- oder Auslaufmodell einer zukünftigen Arbeitsethik?

Die sprachlichen Rekurse zeigen durchaus, dass ethische Anklänge an den alten Topos auch in der heutigen Arbeitswelt noch Bedeutung zu haben scheinen. Aus einer konsequentialistischen Ethiksicht könnte man jedoch fragen, ob es überhaupt ratsam ist, sich an einer jahrhundertealten Ethik zu orientieren, oder ob es sich vielmehr um reines Marketing handelt, um durch Moralisierung den Profit zu erhöhen.

Natürlich, würde Immanuel Kant als Hüter der Sitten antworten: Eine gemeinschaftliche akzeptierte Ethik muss keinen unmittelbaren Nutzen bringen, sondern steht für sich. Geteilte Werte (z.B. Freiheit, Gleichheit) antizipieren jedoch nicht nur einen positiven Soll-Zustand, sondern setzen auch gleichzeitig erhebliche Motivationspotenziale frei, was quasi einer win-win-Situation gleichkommt. Durch diese Motivationspotenziale ist der antizipierte Soll-Zustand nämlich auch tatsächlich wahrscheinlicher. Eine werteorientierte Unternehmensethik kann Menschen zudem auch aus psychologischer Sicht einen erheblichen individualistischen Nutzen bringen, indem sie ihnen eine „cognitive map“ und damit eine Identitätsplattform anbietet: Sind meine persönlichen Werte mit denen des Unternehmens konform? Glauben wir an dieselbe Ethik? Viele Start-Ups nutzen diese identitätsstiftende Funktion für sich und versprechen uns eine bessere Welt, in der es allen Stakeholdern gut geht.

 

Das Revival der Werte

Ernst Holzmann, freiberuflicher Dozent, der selbst 30 Jahre lang als Führungskraft tätig war,  läutet den Abgesang des ehrbaren Kaufmanns ein und schreibt 2015 von einer „aussterbenden Spezies“, der er sich gern erinnert: „Wenn ich an Hochschulen lehre oder auf Veranstaltungen über ‚Führen als Vorbild‘ spreche, greife ich auf das Beispiel eines Ehrbaren Kaufmanns und auf die Führungsprinzipien von ehrbaren Persönlichkeiten zurück […].“ Laut Holzmann ist ehrbar folgendermaßen zu „übersetzen“: E für Ehrlich, H für das Halten an Gesetze, Vorschriften, Regeln und Vereinbarungen, R für den Respektvollen Umgang mit Menschen, B für Bescheidenheit, A für Achtung und R für Redlichkeit. (Holzmann 2015). Diese Aufzählung klingt sprachlich wie ein romantisierender Blick der „Old white Men“ zurück.

Der ehrbare Kaufmann muss 2018 natürlich, wenn er Bestand haben will, in zeitgemäßem Gewand erscheinen. Das Grundgerüst, das seit dem Mittelalter für das Verhalten ehrbarer Kaufleute bestimmend war, kann im Jahr 2018 nicht mehr nur allein gültig sein und muss auf gesellschaftspolitische und mediale Rahmenbedingungen hin erneuert werden. Nicht nur muss der Kaufmann in zeitgemäßem Wording, inklusive weiblicher Formen, erscheinen (z.B. verantwortungsvoller, integre/r Unternehmende/r), sondern auch neue Dimensionen gesellschaftlicher Veränderungen miteinbeziehen. Es muss Unternehmen gelingen, ihre Werte klar, nachvollziehbar und vor allem existenziell erlebbar für ihre Stakeholder darzustellen. Hinter Werten wie Gemeinschaftssinn, Empathie oder Dienst am Kunden steckt häufig – neben der wohlklingenden Worthülle – in der Unternehmenspraxis nicht viel, wenn wir an Beispiele wie Primark, Amazon oder Nestlé denken, die als Firmen immer wieder wegen unethischer Geschäftspraktiken auffallen. Werte werden in diesen Fällen vor allem für externe Stakeholder funktionalisiert, um negative Bedeutungsassoziationen (z.B. ›Billiglöhne‹, ›Menschenrechtsverletzungen‹ oder ›Massenentlassungen‹) sogleich zu negieren.

 

Vom Wertekompass zur gelebten Werterealität

Ob Werte nach ihrer strategisch-kommunikativen Einführung auch tatsächlich eingehalten werden, ist eine zweite Frage. Lehr- oder Studiengänge wie der „CSR-Manager (IHK)“ suggerieren dies zuweilen. Ethik kann einfach erlernt, implementiert und gemessen werden – Auszeichnungen wie most ethical Brands oder ethische Indizes unterstützen diesen rein materialistisch-technokratischen Ansatz. Quantitativ befriedigende Arbeit muss nicht gleichsam auch qualitative Wertigkeit bedeuten. Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen sprachlich proklamiertem Wertebestreben und tatsächlich gelebter Werterealität.

Zu oft kratzen wir nur an der Oberfläche, sprachlich markiert im Wertekompass oder der Unternehmenskultur. Doch die in teuren Workshops designten Werte sind in den wenigsten Fällen wirklich rechtlich bindend, d.h., es geht um Aspekte, die bei Nichteinhaltung nicht sanktioniert werden. Beispielsweise ist häufig zu beobachten, dass Unternehmen gerade nach Krisen Werte wie „Ehrlichkeit“ und „Transparenz“ hochhalten – man denke an die Finanzkrise oder den Abgasskandal der Automobilindustrie. Einer muss gehen, der Rest bleibt. So kommt die Frage nach der Authentizität und Wahrhaftigkeit von Werten wieder ins Spiel. So passiert es, dass argwöhnisch beobachtete Firmen wie Walmart jährlich Milliarden in das Thema CSR investieren.

Zum Glück gibt es dabei die kritischen Wertekonsument(inn)en: Die Öffentlichkeit wirkt im Spiel der Medien als Korrektiv mit. Wenn Unternehmen die proklamierten Werte nämlich nicht einhalten und dies öffentlich bekannt wird, finden wir das meist nicht ehrbar. Hatten Firmen wie Amazon oder Schlecker ihre Mitarbeiter nicht gut behandelt, führte dies zu Umsatz- oder Imageproblemen.

Dies ist bekanntlich nichts Neues. Schon im 18. Jahrhundert wurde in britischen Teekorporationen gegen die darin herrschende Sklaverei demonstriert, was zum Boykott führte. Aber es zeigt: Menschen haben schon immer ein intuitives Gespür dafür gehabt, was „richtig“ ist – auch wenn sie es vielfach aus Gründen ihres eigenen Komforts und der Komplexitätsreduktion ausblenden. Darum wird seitens der Unternehmen in mündigen Gesellschaften der Zukunft noch viel dafür getan werden müssen, um ethisch zu bestehen.

 

 

Autorin: Simone Burel in wallstreet-online.de

 

Literatur:

Burel, Simone (2015): Identitätspositionierungen der DAX-30-Unternehmen. Die Sprachliche Konstruktion von Selbstbildern in Repräsentationstexte. Berlin/Boston: de Gruyter. Zugl.: Univ. Diss. Heidelberg (Sprache und Wissen, 21).

Commerzbank (2015): Werte der Commerzbank.

DWDS: DWDS Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin), [online] http://www.dwds.de/ [03.07.18].

Fockenbrock, Dieter (2017): Ehrbarer Kaufmann soll Leitbild für Manager sein, [online] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/corporate-governance-ehrbarer-kaufmann-soll-leitbild-fuer-manager-sein/19390132.html?ticket=ST-274614-nMoHDruxUzd5ZDdFgvuo-ap4 [03.07.2018].

Haniel Stiftung (2018): Das Leitbild, das Unternehmen und Stiftung prägt, Der Ehrbare Kaufmann, [online] https://www.haniel-stiftung.de/ueber-uns/der-ehrbare-kaufmann [16.08.18]

Holzman, Ernst (2015): Der ehrbare Kaufmann: eine aussterbende Spezies?, [online] https://ethik-heute.org/der-ehrbare-kaufmann-eine-aussterbende-spezies/ [14.08.18]

IHK München und Oberbayern (2018): Der Ehrbare Kaufmann und CSR, [online] https://www.ihk-muenchen.de/de/Wirtschaftsstandort/CSR/ [16.08.18]

Mann, Thomas (1908): Buddenbrooks: Verfall einer Familie. Berlin: S. Fischer.