Wer für eine gute Sache wirbt, muss auch ein guter Verkäufer sein. Diese Erfahrung machen Fundraiser, die auf der Straße um Spenden werben. Wie sie ihren Job erledigen, und worauf es ankommt, beschreibt Anne Kunze in ihrer Reportage “Im Angebot: Gutes Gewissen” in der Zeit vom 12. Mai 2012. Verkaufspsychologie und Gesprächsführung sind wichtig, aber Kunze beobachtet auch: “Dennoch begegnen einem an diesem Tag ausschließlich junge und attraktive Menschen.”
Auszüge aus dem Zeit-Artikel vom 12.05.2012
Hilfsorganisationen: Mit Psychologie und Charme kämpfen Fundraiser um Spenden für Kinder, Tiere und Regenwälder.
© Sutanta Aditya/AFP/Getty Images
Werbeträger für Umweltschützer: Orangutans, hier in einem Nationalpark in Sumatra
Benji spricht fast jeden an, der an ihm vorübergeht: »Mal kurz stehen geblieben!« Bloß keine Frage stellen, die mit Nein beantwortet werden könnte. Benji verkauft Mitgliedschaften bei Hilfsorganisationen. Die setzen sich mal für Menschenrechte und mal für Umweltschutz ein. Heute bringt Benji Kinderpatenschaften für World Vision an den Mann. Sein Arbeitsplatz: Die S-Bahn-Haltestelle Warschauer Straße in Berlin-Friedrichshain.
Benji arbeitet aber nicht bei World Vision, sondern im Auftrag der Fundraising-Agentur Voices. Auch das Werben für die gute Sache wird mittlerweile an externe Dienstleister ausgelagert. Benji ist einer von etwa 5.000 hauptberuflichen Dialogern, so werden die Straßenarbeiter genannt. Zu viert stehen sie heute am Stand in Friedrichshain, Männer zwischen 22 und 35 Jahren. Man spricht sich in der Szene ausschließlich mit dem Vornamen an. Die Dialoger verdienen entweder 30 Euro fix am Tag und erhalten pro angeworbenem Förderer eine Provision von bis zu 36 Euro, oder sie bekommen eine monatliche Pauschale.
Benji, blonde Locken, blaue Augen, ist Anfang zwanzig, fast fertig mit dem Bachelor in Philosophie, Geschichte und Germanistik, aber seit einigen Monaten Dialoger in Vollzeit. Er habe keine Lust, »im System« zu arbeiten, sagt er, vieles in Politik und Wirtschaft sei verlogen. Lieber engagiere er sich gegen das Übel in der Welt. Hundertprozentig, sagt er, stehe er hinter den Anliegen der Hilfsorganisationen, für die er wirbt.
Pro Stunde spricht Benji 40 bis 50 Passanten an. Die meisten gehen an ihm vorbei. Dennoch unterschreiben durchschnittlich fünf Menschen pro Tag bei ihm eine Mitgliedschaft, vertrauen jemandem, den sie gerade erst getroffen haben, ihre Bankdaten an und unterschreiben eine Einzugsermächtigung. Er macht einen Fünferschnitt, heißt das im Jargon der Dialoger. Und das ist in der Branche gar nicht mal schlecht.
Wie genau funktioniert das?
»Es liegt an der Persönlichkeit des Dialogers«, sagt Benjis Kollege Jörg Neuhold. Der 24-Jährige ist seit vier Jahren Fundraiser und so erfolgreich, dass er mittlerweile bei Voices das Personal für die Straße trainiert. Jörg hat einen Zehnerschnitt. »Man muss wirklich begeistert sein von der Sache«, sagt er. Als Backpacker sei er ein Jahr lang durch Brasilien gereist, erzählt er. Dort habe er »einige Geschichten aufgeschnappt, was mit der Bevölkerung passiert, wenn wir aus Profitgier unseren Planeten zerstören« – und habe sich im Amazonasgebiet an Bäume gekettet. Jörg ist fast zwei Meter groß, seine Dreadlocks reichen ihm bis zum Hintern. Durch die Ohrlöcher hat er handtellergroße dunkle Holzspiralen gesteckt, die seine Ohrläppchen bereits beträchtlich geweitet haben.
Über seinen Job spricht Jörg wie über eine Arkanwissenschaft: überall Geheimnisse! Die zwei, drei anderen großen Agenturen, die auch in diesem Bereich arbeiten, können gar keinen Ansprechpartner vermitteln. Wenn man die Fragen vorher schicke, könne man möglicherweise in zwei Monaten einen Termin vereinbaren. Es ist schon erstaunlich: Auf der Straße geben sich alle redselig, doch sobald es ums eigene Geschäft geht, beginnt das große Schweigen.
Wahrscheinlich liegt das daran, dass auch wer für die gute Sache wirbt, vor allem ein guter Verkäufer sein muss. Noch dazu einer auf der Straße, die wie ein anachronistisches Modell wirkt in Zeiten des viralen Marketings.
Auf der Straße in Friedrichshain sind die Jungs immer in Bewegung. Nie haben sie die Hände in den Taschen, auch nicht bei minus 17 Grad. Schon von Weitem machen sie auf sich aufmerksam, nie sprechen sie Passanten von hinten oder von der Seite an, immer von vorn. Sie winken, sie rufen, vor allem aber: Sie strahlen. Auch wenn sie zur Seite geschubst, beschimpft und beleidigt werden, wirken sie noch begeistert.
»Der Trick ist, sofort den Nächsten anzusprechen, damit sich das Nein nicht ins Gedächtnis gräbt«, erklärt Benjis Kollege Waldemar, der erst seit zwei Monaten zu den Fundraisern gehört. »Das Ansprechen ist das Wichtigste«, sagt er. Waldemar, der ein bisschen aussieht wie der junge Alain Delon, wirft sich schon mal vor jemandem auf die Knie oder greift sich ans Herz – und er spricht fast nur Frauen an. »Natürlich hilft flirten«, sagt er.
Benji streckt manchen Passanten die Hand entgegen: »Hallo, ich bin der Benji, wer bist denn du?« Andere fragt er zuerst, woher sie kommen. Wenn er zu reden anhebt, intoniert er melodisch, dann singt er mehr, als dass er spricht. Der Singsang ist gefärbt von österreichischem Akzent und überströmt sein Gegenüber. Wenn er den Namen erfahren hat, wiederholt Benji ihn immer wieder, das schafft persönliche Verbindung. Ansonsten behilft er sich mit »die Dame«, »der Herr« und, bei Frauen unter 30, mit »Krümel«.
Die erste Hürde ist, die Angesprochenen an den Infostand zu bringen. In tänzelnden Schritten bewegt Benji sich nie weit vom Stand weg, damit der Rückweg dorthin nicht zu lang wird. Wer einmal am Stand steht, wird nach einem zuvor festgelegten Plan in eine Unterhaltung verwickelt. Sie beginnt typischerweise mit dem Blick in eine Mappe, die für die Dialoger den Gesprächsleitfaden bildet: mit Plastik überzogene Seiten, auf denen die Hilfsorganisation und einige Projekte vorgestellt werden, geordnet in übersichtlichen Stichpunkten und großer Schrift. Daneben stehen Bilder von glücklichen Kindern, glücklichen Schwangeren, glücklichen Müttern. »Man wirbt nicht mit Bildern von verhungernden Kindern«, sagt Jörg, »das wird als reißerisch betrachtet.«
Auch im Gespräch geht es vor allem um die Erfolge von World Vision, »wir wollen die Leute ja nicht deprimieren«, sagt Benji.
»Alle sechs Sekunden stirbt ein Kind«, sagt Benji, »aber gemeinsam können wir was dagegen tun.« Bei fast allen, die stehen bleiben, wirkt das. »Ja, ich weiß«, nickt eine blonde 20-Jährige fast schuldbewusst. Viel erklärt wird nicht, auf Fakten weitgehend verzichtet: Dialoger setzen auf Emotion statt auf Information.
Ein Gespräch dauert im Schnitt zwischen zwei und sechs Minuten. »Wenn jemand nicht von Grund auf die Bereitschaft hat, Kindern zu helfen, klappt es nicht«, sagt Jörg. Deswegen werde auch kaum diskutiert. Wenn er fast am Ende seiner Mappe angekommen ist, fragt Benji: »Findest du gut, was wir machen?«
Niemand sagt Nein an diesem Tag. Alle sagen Ja. Was soll man auch sagen, wenn einer die Welt retten will?
Benjis Frage hat im Verkaufsgespräch eine zentrale Funktion. Noch wichtiger ist die Antwort des Gesprächspartners. In der Sozialpsychologie wird sie commitment genannt. Der amerikanische Sozialpsychologe Robert Cialdini formuliert das so: »Wenn ich Sie zu einem commitment bringen kann, also dazu, sich zu etwas zu bekennen, habe ich damit die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Sie automatisch und ohne lange zu überlegen in Einklang mit dieser Festlegung handeln. Sobald man einmal einen Standpunkt eingenommen hat, besteht eine natürliche Neigung, konsequent bei diesem Standpunkt zu bleiben.« Man will also tun, was man gesagt hat – auch wenn die Aussage provoziert wurde. Und so ein commitment wirkt umso stärker, je öffentlicher es ist: Die Straße, die Umstehenden und die Passanten erhöhen den psychologischen Druck auf den Gesprächspartner.
Genau dann, beim entscheidenden Ja, schlägt Benji die letzte Seite in der Mappe um. Sie enthält ein Formular mit Einzugsermächtigung. Benji nennt sie aber nicht Einzugsermächtigung, sondern »Mitmachblatt«.
Nun beginnt der letzte und härteste Teil für den Dialoger: die Verhandlung um die Spendenmitgliedschaft. Halbjährlich 60 Euro sind Benji am liebsten, das klingt weniger als 120 Euro pro Jahr. Jetzt beginnen die Ja-Sager zu zaudern, aber man redet schon längst nicht mehr über das »Ob«, sondern um das »Wie viel«.
Benji konfrontiert eine junge Frau mit seinem ersten Argument, das stets dasselbe ist: »Wenn ich dir jeden Monat zehn Euro schenke, weil ich so lieb bin, dann wirst du nicht in eine andere Wohnung ziehen, dir kein neues Auto kaufen, dein Lebensstandard wird sich nicht wirklich ändern. Nicht wahr?«
»Ja.«
»Wenn ich dir jetzt aber jeden Monat zehn Euro wegnehme, dann wirst du auch nicht aus deiner Wohnung hier unter die Oberbaumbrücke ziehen und dich mit den Tauben um die letzten Brotkrumen streiten müssen. Du wirst genauso viel feiern und shoppen gehen können wie bisher.«
»Aber ich lebe von meinem Kindergeld…«, wendet die junge Frau vorsichtig ein. »Ich kann es mir wirklich nicht leisten. Nicht denken, dass ich ein schlechter Mensch bin, okay?«
»Natürlich nicht«, beteuert Benji in das schlechte Gewissen hinein, das die Fundraiser abrufen.
Die nächste Angesprochene sagt, sie sei »schon mal übers Ohr gehauen worden« und möchte auf der Straße nichts unterschreiben. Benji deutet auf die Einzugsermächtigung und sagt: »Hier steht alles schwarz auf weiß, auch, dass du kündigen kannst.«
Die Autorität des Papiers wirkt nicht auf die Frau. Benji versucht noch zweimal, sie zu überzeugen, bis er sie schließlich mit einem »Ich wünsche dir noch einen schönen Tag!« aus dem Gespräch entlässt.
An der letzten Hürde ist der Dialoger gescheitert. »Man argumentiert nur dreimal«, erklärt Jörg, »dann gibt man das Gespräch verloren. Es dauert sonst einfach zu lange.«
Auch der nächsten Passantin sind 60 Euro pro Halbjahr zu viel. »Aber du hast doch gesagt, dass du gut findest, was wir machen«, erinnert Benji sie an ihr commitment. »Wir stehen gemeinsam in der Verantwortung, etwas zu tun.«
»Gibt es nichts anderes, das ich tun kann? Mein Leben ist gerade so ungeordnet.«
»Nein, hier nicht.«
Schließlich unterschreibt sie. Alle vier Dialoger applaudieren. Der Teamapplaus, sagt Jörg, sei sehr wichtig als Signal für die anderen, noch unentschlossenen Förderer am Stand. Er erhöht die Bereitschaft zur Unterschrift.
Benji ruft sein Team in Friedrichshain zum Gruppentreffen. Der Himmel verdunkelt sich, bald wird es regnen. »Gebt noch mal alles«, feuert Benji seine Kollegen an, aber meistens lässt er sie einfach machen. »Sie schreiben am besten ohne Druck«, sagt er. Schreiben steht im Jargon der Dialoger für eine unterzeichnete Einzugsermächtigung – dem »Schrieb«. Es gibt auch »Sexualschriebe«, das sind Unterschriften nach einem kleinen Flirt auf der Straße.
Der Wissenschaftler Cialdini hält die körperliche Attraktivität von Verkäufern für entscheidend. Gut aussehende Leute könnten andere leichter beeinflussen. Sie bekämen eher, um was sie bitten, und schafften es leichter, andere von ihrer Meinung zu überzeugen. Natürlich bestreitet Benjis Agentur, Mitarbeiter nach ihrem Aussehen einzustellen. Dennoch begegnen einem an diesem Tag ausschließlich junge und attraktive Menschen.